Die Leopoldina hat eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie sich für einen harten Lockdown ab 14. Dezember 2020 ausspricht. Die Formulierung lautet „[…] ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl von Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern.“
Das ist erstmal nicht zu verurteilen. Jeder Zusammenschluss von Menschen, so wie es auch die Leopoldina ist, darf und sollte sich an unserer Meinungsdemokratie beteiligen. Aber ist es einfach eine Meinung? Aufhorchen lassen sollte die Formulierung „aus wissenschaftlicher Sicht“. Das ist ein großes Kaliber. Aus wissenschaftlicher Sicht sollte eigentlich eine besonders vorläufige und vorsichtige Maßnahmenempfehlung folgen. Unabhängig davon, ab die Leopoldina Recht hätte, gibt es keine wissenschaftlich ausreichend fundierte Erkenntnis, dass ein harter Lockdown die Anzahl der Neuinfektionen noch schnell und drastisch verringern kann. Die Leopoldina will – oder sollte zumindest – sagen, dass man es versuchen sollte. Die Gründe führt sie sodann auf.
Es sterben Menschen und Menschen sind an der Grenze der Dauerbelastung. Die Gesundheitsämter sind überfordert. Wenn dieses wichtige System unserer Gesellschaft ausfällt, werden die Folgen unabsehbar schlimm.
Gut, das überzeugt den Pragmatiker in mir. Aber:
Aber dafür ist ein Gremium wie das der Leopoldina nicht da. Wissenschaftler sollen und dürfen nicht der Anwalt der Risikogruppen, des Gesundheitspersonals und schließlich des Gesundheitssystems selber sein. Aber das Wollen sei kurz dahingestellt, das Wie will uns die Leopoldina auch erklären. Mit einem zweistufigen Verfahren sollen ab dem 14. und ab dem 24. Dezember nach und nach Kontakte reduziert, alles aufs Homeoffice nach Möglichkeit umgeleitet, Gruppenaktivität eingestellt und auf jede Präsenz verzichtet werden. Dazu sollen Geschäfte schließen müssen, Weihnachtsferien verlängert werden, Zusammenkünfte und Urlaub unterbleiben und soziale Kontakte auf ein Minimum reduziert werden.
Nicht, dass ich die Wende gegen eine durchkommerzialisierte Weihnacht nicht unterschreiben würde, aber eine Institution der Wissenschaft gebietet uns eine feierliche Frömmigkeit, die den Aufrufen kirchlicher Institutionen nach Demut und Enthaltsamkeit in nichts nachsteht. Man könnte fragen:
Wo sind die Appelle der Juristen, der Politiker, der Ärzte, der Philosophen, der Kirchen, einen harten Lockdown zu fordern? Warum traut sich dieses System der Gesellschaft zuerst und sonst kein anderes?
Bisher sei zu konstatieren, die Dominanz, das quasireligiöse Selbstverständnis und das Machtgefühl der Leopoldina ist bemerkenswert – im Wortsinne. Die L. fordert den harten Lockdown mit sehr großen Argumenten. Sie setzt eine Wirksamkeit seiner Forderung voraus und betitelt dies „wissenschaftlich“ und – das sei folgend gezeigt – sie lässt eine eindrucksvolle Macht wirken.
Denn die L. hat uns auch die Abwägung von Menschenleben mit anderen Rechtsgütern abgenommen. Denn natürlich sieht die L. ein, welches Opfer es einfordert:
„Aber zu den Feiertagen die nächsten Angehörigen bzw. Menschen des engsten sozialen Umfeldes nicht zu sehen, wäre für viele Menschen mit sehr großen sozialen und psychischen Belastungen verbunden. […] Dabei muss man sich aber der Risiken bewusst sein und daher die folgenden Regeln einhalten:“
Das Bedürfnis von Menschen, sich zu sehen und nahe zu sein, wurde schon abgewogen und mit dem Befolgen von Regeln quittiert. Die Diskussion hat sich anscheinend also schon erledigt. Gut zu wissen. Für wirtschaftlich motivierte Widersprüche hat sich die L. aber auch eine Lösung zurecht gelegt.
„Verschärfte Maßnahmen sind auch aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll. […] Ohne verschärften Lock-down in der Weihnachtspause besteht die Gefahr, dass der aktuelle Teil-Lockdown mit seinen Beschränkungen für Monate aufrechterhalten werden muss. Dies würde neben ausfallender Wertschöpfung auch zu hoher Belastung der öffentlichen Haushalte führen, weil die geschlossenen Unternehmen Überbrückungshilfen benötigen.“
Interessant ist zum einen, dass es anscheinend die wirtschaftliche Perspektive gäbe und keine sich entgegengesetzten Interessen. Händler in Innenstädten werden vermutlich weniger von dieser wirtschaftlich sinnvollen Perspektive halten, als z.B. Amazon oder generell Online-Händler. Darüber hinaus legitimiert die L. offensichtlich, dass öffentliche Haushalte nicht belastet werden sollten, obwohl es sehr wohl eine politische Entscheidung ist, Haushalte zu belasten (zumindest hat sich die L . damals zu Fragen, ob in der Bankenkrise Banken zulasten öffentlicher Haushalte gerettet werden sollten, gepflegt zurück gehalten).
Der Rest der Stellungnahme sind gute Ratschläge, denen man nur beipflichten kann.
Aber, was ist das für ein Phänomen? Gut bezahlte Wissenschaftler, deren Arbeit und Einkommen allenfalls gering von der Pandemie beeinflusst werden, werfen sich das Attribut „wissenschaftlich“ an ihre Forderungen und glauben – und wissen wahrscheinlich auch –, damit Erfolg zu haben. Der große Beginn der „March for Science“-Bewegung ist noch nicht lange her. Das Denken, dass sich in diesem Machtbewusstsein äußert, hat gute Gründe, eine gute Argumentation und den Nimbus der einzigen Religion, die der Moderne wahrlich geblieben ist: Die Wissenschaft. Ihre Innovationen, Techniken und Welterklärungen haben uns erst bereicht, dann erfüllt und nun dominieren sie uns (zurecht?).
Der Geist kam aus der Flasche, als die Kirche begann, ihr Monopol auf die letztgültige Wahrheit zu verlieren. Die Handelsbeziehungen der Wissenschaft wurden in den letzten 200 Jahren ausgebaut und scheinen nunmehr immer bereiter, der Kirchen Rolle vollends zu übernehmen. Wer braucht ein Leben nach dem Tod, wenn er bis zu 100 Jahre alt werden kann?
Man mag sich irren, in welcher Überzeugung die L. diese Stellungnahme geschrieben haben mag. Sie hat gute Gründe, ihre Forderungen zu stellen, deren Wirkungen wahrscheinlich – aber auch hoffentlich – absolut geboten sind. Aber man darf und sollte sich ab und an daran erinnern, dass eine „wissenschaftliche Sicht“ das Ergebnis dessen vorweg nimmt, was wir Politik nennen.
Ein jüngst veröffentlichtes Buch von Arnd Henze heißt „Kann Kirche Demokratie?“. Aber mich beschleicht langsam der Zweifel, ob man diese Frage wirklich der Kirche stellen müsse…
(Hochzeit der akademischen Wissensform ahoi!)